Nach Sumbawanga

Nachdem wir Oskar die restliche vereinbarte Heuer ausgezahlt hatten, gingen wir sofort in das Uferrestaurant und wollten zu Abend essen. Eine Speisekarte gab es nicht, dafür war es fast total dunkel. Beim Wirt hatten wir schon am Morgen einen großen Fisch für jeden bestellt, wir waren gespannt, was sie geangelt hatten. Es dauerte nicht lange, da wurden vor uns Teller abgestellt. Die Frage nach einem Besteck erübrigte sich, konnten wir doch kaum die Teller wahrnehmen. Da man den Fisch, auf Grund seiner Größe, eh mit der Hand essen kann, hatte ich auch keine gesellschaftlichen Bedenken. Ich sah nicht was ich aß, aber es schmeckte. Mit den Fingern konnte ich sehr gut den Fisch von seinen Gräten trennen, nur mit dem Reis hatte ich meine Probleme. Zu Trinken gab es afrikanischen Tee. Aber all diese Umstände waren uns nach dem Tag relativ egal, wir wollten nach dem Essen nur noch ins Bett. Da tauchte Stefan auf. Er hatte die Ankunft eines Versorgungsfahrzeuges mitbekommen und sofort einige Flaschen Bier gekauft. Die Stimmung eskalierte.
Ich erkundigte mich beim Wirt, der übrigens ebenfalls Oskar hieß, nach einer Mitfahrgelegenheit für den kommenden Tag nach Sumbawanga. Er wollte sich erkundigen. Nach zwei Bier war ich sehr beschwingt und wir gingen zu unserem Hotel. Drinnen, es war stockdunkel, sprachen uns drei Afrikaner an, wegen der Fahrt am nächsten Tag. Wir waren froh, daß dies so problemlos funktionierte. Ich besichtigte das Fahrzeug, einen dunklen Pick-Up und wir erfuhren, daß die Reise 6:00 beginnen würde. Eine kurze Nacht stand uns bevor. Dachten wir.
Schon wollten wir unsere Moskitonetze aktivieren, da hörten wir ferne melodiöse Geräusche. Wir pfiffen auf die kurze Nacht und gingen ihnen nach.
Die Szene war unter dem großen Mangobaum des Dorfes aufgebaut. Der Vollmond leuchtete durch zwei große Palmen und im hellen Licht lagerte die Hälfte der Dorfbewohner, vielleicht 100 Afrikaner. Sie hatte ihre Schlafmatten und Decken mitgebracht und sich darauf und darin eingerichtet und gewickelt. Ein Feuer brannte und beleuchtete das Geschehen ebenfalls mit seinem flackernden Schein. Drei Trommler hatten ihre selbstgefertigten Instrumente aufgebaut und bearbeiteten sie mit Freude, Kraft und viel Gefühl für den Gang der Ereignisse. Eine junge Frau sang dazu. Sie war, wie wir bald erkannten, der Spiritus rektor der Abendunterhaltung. Sie sang eine Strophe vor und das Dorf antwortete ihr. Die Lieder waren unendlich lang. Leider haben wir nicht erfahren, wovon sie handelten. Einige tanzten nach der Musik.  Das Ambiente, die Melodie und der Klang der Worte bildeten eine Einheit. Es war schlicht und ergreifend schön. Den Jungs in Hollywood hätte man die Klappe als ihre typische Fantasie abgenommen. Wenn sie soweit gekommen wären. Nein, hier war alles echt, ungekünstelt und relativ spontan. Relativ daher, weil die Fische in hellen Nächten mit ihrer Fangmethode eh keinen Erfolg haben.
Wir standen keine drei Minuten um diesem, mich tief beeindruckendem Spiel zuzuschauen, da wurden drei Stühle für uns besorgt und wir saßen in der ersten Reihe. Eine zweite gab es nicht. Vielleicht saßen wir auch schon auf der Bühne, so scharf war die Trennung wohl nicht. Andreas und mich hielt diese kulturelle Abendunterhaltung noch gute zwei Stunden munter, unser Freund Stefan war schon nach zwei Minuten eingeschlafen. Die Schwaben sind halt nicht so harte Typen, solche Tagesabläufe zu verkraften. Vielleicht ging ihm der Kulturstress auch auf die Nerven und er entzog sich ihm einfach so. Auch wir zogen uns gegen 1:00 zurück und schliefen bei ferner African-Musik ein.
Am nächsten Morgen beeilten wir uns mit der Morgentoilette, schnürten rasch unser Bündel und warfen noch einen letzten Blick auf den Raum, in welchem wir so herrlich geschlummert hatten. Würden wir je wieder hier her kommen?
Zwei Pick-Up hielten die Verbindung mit der Welt, für die in Muzi Sumbawanga stand, aufrecht. Sie waren die Einzigen Verkehrsmittel im ganzen Dorf. Im Zweiten, einem alten Land-Rover fuhren wir beide vorn mit. Andreas hielt die Tür und ich hielt Andreas fest. Ich wollte, wenn möglich, beide bis ans Ende unserer Fahrt behalten. Die Ladefläche war mit einigen Dingen beladen, die auf dem Markt verkauft werden sollten und mit 10 Afrikanern. Wobei ich mich bei dieser Zahl nicht festlegen will, weil eine schwanger war und da war nicht ersichtlich wieviel Kinder sie unter dem Herzen trug. Als wir aus dem Dorf fuhren trauten wir unseren Augen nicht. Was hier „Straße“ genannt wurde, wäre in Mitteleuropa als Bachbett durchgegangen, mit gebrochenem Gestein der Siebgröße 0/X, wobei das X für 600mm steht. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß so ein altes Auto diese Materialschlacht von 109 km übersteht. Nach  500m, Muzi lag hinter uns und Kasanga rechts im Tal, hatten wir die erste Steigung genommen. Wir dachten, damit das größte Problem hinter uns zu haben. Der Wagen hatte sich im ersten Gang hier hoch gequält und schien auseinander fallen zu wollen. Aber wir hatten uns geirrt. Die Beschaffenheit unseres Bachbettes verbesserte sich nur unwesentlich. Es war für uns nicht vorstellbar, wie ein von Menschenhand geschaffenes Transportmittel solche Leistungen auf Dauer erbringen kann. Wir wissen nicht, wie oft dieser Landrover diese Tour schon gemacht hatte, mit uns war es seine vorerst letzzte. Nach etwa 3km Fahrt im Gebirge knallte es plötzlich an einer Steigung und wir rollten ungebremst rückwärts den Weg hinunter. Der Fahrer riß das Lenkrad zur Seite und fuhr rückwärts gegen den Hang. Der Wagen kippte 44,9° zur Seite und landete wieder auf den Rädern.
Als wir wieder nachdenken konnten sahen wir nach den hinten stehenden Mitfahren. Der schwangeren Frau und ihren drei Kindern war nichts passiert. Anschließend fragte ich den Fahrer warum er nicht gebremst habe. Er zeigte mir daß er überhaupt keine hatte. Beide Bremsen funktionierten von Anfang an nicht. Die einzige direkte Bremse war die Motorbremse und die war mit der gebrochenen Antriebswelle auch defekt. Die zweite Bremse war ein junger Mann der hinten auf dem Auto stand. Wenn das Auto halten sollte sprang er ab und legte einen Holzklotz unter das Hinterrad. Ging die Fahrt weiter, nahm er den Klotz weg und sprang auf das Fahrzeug auf. Von nun an achtete Andreas mehr auf technische Details an unseren potentiellen Fahrzeugen.
Wir halfen das Auto an den Wegrand zu stellen, nahmen unsere Rucksäcke und liefen wieder nach Muzi zurück. Das nächste Dorf war 50 km entfernt und da die Sonne langsam aufstieg schien uns das die bessere Lösung. So kam es, daß wir nach kaum zwei Stunden wieder in unserer Herberge um ein Zimmer frugen und eine zweite Nacht in Muzi verbrachten.
Im besten (und einzigen) Restaurant im Dorf trafen wir Stefan, der ebenfalls nach Sumbawanga fahren wollte, und frühstückten noch mit Ihm. Gegen 10:00 verabschiedeten wir Stefan und ruhten uns aus in der Hoffnung am nächsten Früh mit dem zweiten Pick-Up, der optisch etwas besser aussah, die ganze Sache neu  zu starten. Es war allerdings noch nicht klar ob er die Hin- und Rückfahrt an einem Tag schafft, selbst wenn er ganz bliebe.
Wir richteten uns in unserem Zimmer wieder ein und bummelten dann durch das Dorf. Am Vortag hatte uns die Zeit gefehlt, jetzt holten wir die Erkundung nach.
Wir wohnten 100 Meter westlich des Broadway, direkt in der Wallstreet. Hier tobte des Tags das Leben dergestalt, daß schon einmal eine Frau zum Kaufmann kam und sich für drei Pfennige Petroleum kaufte. Die Flasche war damit daumenbreit gefüllt. Andreas kurbelte die Wirtschaft an und ließ seinen in Auflösung befindlichen Hut beim Schneider nach nähen. Für beide Seiten ein vorteilhaftes Geschäft. Muzi war nicht sehr groß und wir hatten es in zwei Minuten durchwandert. Wir folgten dem Weg noch einge Meter und standen an einem Bach. Vielleicht hatten uns auch die vielen Stimmen hier her gelockt, jedenfalls waren wir im Damenbad gelandet. Das Gekreische war entsprechend. Aber die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Einige der Teenies, die sich hier auf den Samstagabendschwof vorbereiteten ließen sich durch uns in ihrem Waschritual nicht stören, andere versuchten schnell ihre schwarzen Brüste zu bedecken. Die ganz Kecken reckten letztere stolz heraus und wollten damit sagen, schaut her, was wir für hübsche Afrikanerinnen sind.
Am Abend, wir wollten eigentlich in Sumbawanga in der Bar zum Großwildjäger sitzen, waren wir wieder bei Oskar zum Essen, als Motorengeräusch ins Dorf kam. Es war aber nicht der heimkehrende Pik-up sondern ein riesiges modernes Fahrzeug der gleichen Bauart. Sein Besitzer, ein indischer Ziegelfabrikant aus Mbeya, hatte gleich einen ganzen Hofstaat mitgebracht und auch einen entsprechenden Umfang. Am späten Abend suchten wir das Gespräch mit ihm und trugen unsere Frage vor. Großmütig, er hatte wohl schon einige Bier getrunken, gewährte er uns die Mitfahrt nach Sumbawanga.
Nach dieser frohen Botschaft hielten wir es für angebracht, zu feiern. Wir kauften also zwei Bier und gesellten uns zu der Menge, welche wieder auf dem Broadway sang und tanzte. Diese nächtlichen Gesänge mit dem afrikanischen Ambiente war zu beeindruckend, um es nicht noch einmal genießen zu wollen.
Der Sonntagmorgen begann so, wie es sich für einen Sonntagmorgen gehört. Viel Zeit für die Morgentoilette im Hof. Hier stand eine einfache Handpumpe aus Finnland, mit der wir Wasser für die Duschkabinen heraufholten. Dann ging es mit der Plasteschüssel in die mit einer Holztür versehenen Kabine. Hier endlich konnte man nach Herzenslust duschen. So lange das Wasser in der Schüssel reichte. Da die Sonne alles schon ordentlich wärmte, waren diese Handlungen im Freien sehr angenehm. Unser Inder nahm in seinem Nachthemd erst ein Bad in der Menge und dann im See. Aber ohne Hemd. Nach einem ausgiebigen Frühstück brachen wir dann gegen 9:00 auf. Das Bachbett war immer noch da, aber unser Fahrzeug machte einen bedeutend besseren Eindruck. Wir saßen diesmal hinten auf Bänken und ließen uns beider gemütlichen Fahrt den Wind um die Ohren wehen. Wir kamen gut voran und hielten dann in einem kleinen Dorf. Hier wurde die Mangoernte eingekauft, zu einem Zehntel des Preises, den man in Mbeya dafür zahlen müßte. Einige Kilometer weiter gab es Holzkohle. Der Pik-up wurde vollgepackt. Diese 400km-Reise hatte sich dadurch bezahlt gemacht.
In einem kleinen Ort, dessen Straße fort gespült wurden war, hielten wir wieder an. Unser Mann war auch hier bekannt, einige scharten sich um ihn. Er wollte den Dorfvorsteher sprechen, der mit seinem Gefolge auch sogleich erschien. Wir verstanden zwar kein Wort, konnten aber aus den Gesten und Mienen entnehmen, daß hier Tacheles geredet wurde. Die Straße sollte schleunigst repariert werden. Der Dorfvorsteher warf die fehlenden finanziellen Mittel als Argument ein und bekam sofort Tsh 5.000,00 zur Lösung des Problems. Ob der Haushaltsplan diesen Posten vorsah? Kein Projekt, keine Ausschreibung auch Aufmaß und Rechnungslegung waren hier nicht notwendig. In Afrika ist vieles anders.
Die schöne Fahrt durch die Berge mit dem Pick-Up endete nach 4 h bei glühender Mittagshitze in Sumbawanga.

Vor der flimmernden Hitze flüchteten wir in eine Kneipe am Rande der Hauptstraße. Tee! Wir hatten auf der Fahrt nichts getrunken und lechzten nun nach einem heißen schwarzen Tee. Die ungläubigen Blicke nachdem wir unseren Spruch aufgesagt hatten kannten wir, aber sie belustigten uns. Andreas bestellte außerdem Bratkartoffeln mit Rührei und Ketchup. Mein Hunger hielt sich in Grenzen. Unser Reiseführer wies eine Karte von Sumbawanga, der Hauptstadt der Verwaltungsregion Rukwa auf. Wir steuerten ein einfaches (Toilette und Dusche über den Hof zu erreichen) Guesthouse an und mieteten uns ein. Die Zeit für eine Siesta war ideal. Doch vorher gab es zur Begrüßung ein warmes Bier.
Zum anschließenden Stadtbummel holten wir unsere „Leipzig kommt“ T-shirts raus und sahen uns in der City um. Gleich gegenüber unseres Hauses stillte eine Marktfrau beim Verkauf der Tomaten ihr Baby. Ansonsten war es sehr ruhig.
An der ersten Busstation sah der Fahrplan erst für Dienstag eine Fahrt nach Mbeya vor. Aber wir hätten nach Tunduma fahren können und dort hält auch der Zug nach Dar Es Salam. Solch eine Großstadt wie Sumbawanga hat natürlich mehrere Busunternehmen. Beim nächsten hatten wir mehr Glück. Wir kauften sofort für Montag eine Fahrkarte nach Mbeya.
Der Biergroßhändler an der Hauptstraße machte mit uns eine Ausnahme und verkaufte uns zwei Flaschen, die wir in seinem Kontor leerten. Wir bummelten wieder heim und bereiteten uns auf den Besuch im legendären Upendo View Hotel vor. Die Bar sollte der Treffpunkt von Sumbawanga sein. Hatten sich doch hier früher die weißen Jäger getroffen und sich nach ihren Großwildjagden den Staub aus der Kehle gespült. Ist das Jägerlatein in unseren Breiten schon schauerlich, wie muß sich erst das Großwildjägerlatein angehört haben. Auf dieses Hotel steuerten wir voller Ehrfurcht zu. Die großen Glastüren des Entrees schwangen leise nach innen auf und aus dem halbdunklen Hintergrund klang erregtes Stimmengewirr. Dort mußte die Bar sein. Wir näherten uns voller Erwartung und öffneten die Tür. Der Raum war voll und alle diskutierten durcheinander. Nein, kein Großwildjägerlatein, nur Schwarze vor dem TV beim Fußball. Wir sahen uns unsere Enttäuschung an. Aber etwas müßte hier doch noch gehen. Wir bestellten ein Bier und schauten uns um. Nicht, aber auch gar nichts erinnerte noch an die Zeit der großen Jäger. Und hierauf hatten wir uns am Samstag gefreut. Ein Glück, daß unser Pik-up umgekippt war und wir den Samstagabend in Muzi verbringen durften. Alles hat seinen tieferen Sinn, auch wenn der kleine Mensch ihn nicht sofort erkennt.
Das Essen im Hotelrestaurant ist nicht erwähnenswert. In einer Seitenstraße auf dem Weg nach Hause suchten wir nach einem Glasbiergeschäft. Da Zur Zeit die Afrikanische Fußballmeisterschaft stattfand, saßen alle vor dem Fernseher. Wir konnten unser Desinteresse nicht so richtig rüberbringen und mußten uns mit hinsetzen. An Bier war hier nicht zu denken. Nach zehn Minuten konnten wir entfliehen und fanden auf der gegenüberliegenden Straßenseite die ersehnten Getränke. Aber auch hier regierte König Fußball. Wir spazierten zu unserem Guesthouse zurück und ließen und in Morpheus Arme fallen. Wir mußten 6:00 im Bus sitzen, die Nacht war kurz. Es dauerte den gewöhnlichen afrikanischen Moment, bis alle Mitfahrer und deren Gepäck verstaut war. Aber dann ging es sofort 7:00 los. Als letzte Passagiere kamen noch unsere Reisegefährten vom Schiff, mit denen wir nun bereits seit Kigoma unterwegs waren. Sie mußten sich und ihre Rucksäcke auf zwei schmalen Sitzen verstauen.



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